Stolperstein-Verlegung in Coesfeld

„Wir machen die Opfer wieder sichtbar.“

SuS der SoR Ag zusammen mit Frau E. Diekmann (Bürgermeisterin) und Herrn G. Demnig (Künstler)

Seit dem 15.12.2021 erinnern insgesamt 10 weitere Stolpersteine (Bahnhofstr. und Wiedauer Weg) an Schicksale ehemaliger Coesfelder MitbürgerInnen der Familien Cohen und Freund, sowie Benno und Wilhelmine Süßkind (geborene David, verwitwete Cohen), die in der Zeit des Nationalsozialismus (NS-Zeit) verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden.

Deportationstag der jüdischen CoesfelderInnen nach Riga, 10.12.1941

Frau Ronit Polak-Cohen, eine der letzten, bekannten, lebenden Angehörigen der Coesfelder MitbürgerInnen war zur Verlegung anwesend. Sie ist die Nichte von Wilhelmine Süßkind (Tante „Minchen“), der einzigen Überlebenden dieser Deportationsgruppe auf dem Foto (s.oben) vom Deportationstag der jüdischen CoesfelderInnen am 10.12.1941 nach Riga. Dieses Foto ist als Gedenkstele im Schlosspark Coesfeld zu sehen.

Künstler Gunter Demnig

Der Künstler dieses Projekts, Gunter Demnig, reiste erneut selbst nach Coesfeld, um die messingbeschichteten Gedenktafeln eigenhändig im Boden zu verlegen. Es handelt sich hierbei um das größte, dezentrale Mahnmal der Welt.

Verlegung der neuen Stolpersteine

Von der Theo beteiligten sich SchülerInnen der SoR-AG (Schule ohne Rassismus) sowie Frau Kaulingfrecks an der Gestaltung der Zeremonie. Sie verlasen Biografien von Karl-Heinz Freund (sieben Jahre alt) und seinem Onkel Ludwig Cohen (weitere Hinweise zu seiner Biografie s. unten). Frau Schlappa sorgte durch das Spielen von jüdischen Liedern auf dem Akkordeon für einen musikalischen Rahmen während der Verlegung der Steine.

Beitrag von SchülerInnen der Theo

Frau Haßkamp (ehemalige Lehrerin an der Theodor Heuss Realschule) und Herr W. Jung stellten weitere Biografien vor.

Frau Haßkamp (Lehrerin a.D.)

Eine Schülerin der Martin Luther Grundschule legte stellvertretend für die Klassen 4a & 4b Briefe, die sie im Rahmen ihres Unterrichts an Karl-Heinz Freund  geschrieben hatten, auf die Stolpersteine. 

Briefe von GrundschülerInnen

Ausschnitte aus der Biografie von Ludwig Cohen

Ludwig war im Februar 1919 in Horstmar zur Welt gekommen. Beim Umzug der Familie nach Coesfeld ist Ludwig 11 Jahre alt gewesen, noch bis Ostern 1933 dürfte er die Volksschule besucht haben.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war es für Ludwig nicht mehr möglich, im Anschluss an seine achtjährige Schulzeit eine Berufsausbildung zu machen. Er soll stattdessen seine Eltern im Haushalt unterstützt haben.

Später ist er, genau wie sein Vater Jakob, zu körperlich schwerster Zwangsarbeit verpflichtet worden. Der inzwischen 19-jährige Ludwig musste aber nicht, wie sein Vater Jakob Cohen im Moor arbeiten, sondern wurde zusammen mit anderen jungen jüdischen Männern aus Coesfeld bei Kanalarbeiten in Münster eingesetzt.

Am 6. August 1941 mussten Jakob und Ludwig Cohen ihre Wohnung hier in der Feldmark verlassen und in das sogenannte „Judenhaus“ in der Kupferstraße 10 in der Coesfelder Innenstadt übersiedeln.

Dort haben sie noch vier Monate gelebt, mit insgesamt 23 Personen auf engstem Raum, bevor man sie am 10. Dezember 1941 zusammen mit den meisten der noch verbliebenen jüdischen Coesfelderinnen und Coesfelder über Münster und Bielefeld ins Ghetto Riga deportierte. Zum Zeitpunkt der Deportation war Jakob 64 und Ludwig 22 Jahre alt.

Ende Juli 1944 soll Jakob Cohen im Rigaer Ghetto zuletzt lebend gesehen worden sein. Wann genau er ums Leben gebracht wurde, ist unklar. Als Todesdatum wurde später der 8.Mai 1945 festgelegt.

Auch Ludwig Cohens Spur verliert sich im Ghetto in Riga, was mit ihm nach seiner Ankunft dort geschah, weiß niemand. Auch er wurde nach dem Krieg mit dem Todesdatum 8. Mai 1945 für tot erklärt.

Ludwig Cohen

Karl Heinz Julius Freund (*1934)

Karl Heinz Freund wurde am 24. Februar 1934 in Mannheim-Feudenheim geboren, er war das erste und einzige Kind seiner Eltern Martha und Richard Freund. Karl Heinz wurde mit Zweitnamen Julius genannt, so hieß ein Bruder von seinem Vater Richard, der schon als junger Mann als Soldat im Ersten Weltkrieg gestorben war.

Karl Heinz‘ Familie wohnte in Feudenheim in der Eichbaumstraße 1. Als Karl Heinz geboren wurde, lebten in dem einfachen und nicht allzu großen Haus auch noch seine Großmutter Helene, sein Onkel Karl mit seiner Frau Henriette und seine Tante Susi mit ihrem Mann Victor. Die Onkel und Tanten hatten alle keine Kinder, Karl Heinz war also das einzige Kind in der Eichbaumstraße 1. Sein Vater Richard und sein Onkel Victor arbeiteten als Kaufmänner, sein Onkel Karl war Klempner.

Das Haus in der Eichbaumstraße 1 in Mannheim-Feudenheim, in dem Karl Heinz Freund 1934 geboren wurde und bis 1939 wohnte. 

(Foto: Archiv des Vereins für Ortsgeschichte Feudenheim)

In Feudenheim lebten außer den Freunds auch noch andere jüdische Familien, es gab im Ort eine Synagoge, eine jüdische Schule und einen jüdischen Friedhof. Die meisten jüdischen Familien lebten davon, dass sie mit Vieh oder mit Stoffen handelten, es gab auch einen jüdischen Bäcker und einen jüdischen Metzger. Ein richtiges jüdisches Wohnviertel hatte Feudenheim nicht, aber die Straße, in der die Familie Freund wohnte, wurde von den Leuten auch “Judengasse“ genannt, weil hier mehrere jüdische Familien ihre Häuser und Wohnungen hatten.

Als Karl Heinz noch ein Baby war, wurde den Juden überall in Deutschland immer mehr verboten: Sie durften – bloß weil sie Juden waren – zum Beispiel nicht mehr ins Schwimmbad gehen, sie durften nicht mehr im Fußball- oder Turnverein mitmachen oder im Park auf den Bänken sitzen. Viele jüdische Männer und Frauen wurden aus ihren Arbeitsstellen entlassen und durften nicht mehr in ihren Berufen arbeiten. Oft konnten sie dann auch nur noch wenig oder gar kein Geld mehr verdienen, um ihre Familien zu ernähren.

Karl Heinz als Baby im Sommer 1934 mit seiner Mutter Martha zu Besuch bei den Großeltern Johanna und Jakob Cohen in Coesfeld. Rechts sein Onkel Ludwig Cohen, damals 15 Jahre alt.

(Foto: Archiv Anna Maria Vossenberg, Horstmar)

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, da war Karl Heinz Freund fast fünf Jahre alt, zogen überall in Deutschland Gruppen von Menschen durch die Straßen, brachen in jüdische Geschäfte ein, nahmen sich was sie wollten und zerstörten die Ladeneinrichtungen. Diese Nacht nennt man heute „Pogromnacht“. Die Menschen, die in dieser Nacht in den Straßen unterwegs waren, verwüsteten auch viele jüdische Gotteshäuser (die Synagogen) und legten Feuer darin, auch in Feudenheim. Und sie gingen in die Häuser ihrer jüdischen Nachbarn, verprügelten sie, zerschlugen ihre Möbel, rissen alle Kleidung aus den Schränken, schlitzten Bettdecken auf, schmissen Glas und Geschirr kaputt und stahlen Dinge, die wertvoll waren und ihnen gefielen. Nur, weil behauptet wurde, dass alle Juden schlecht seien und man so etwas mit Juden machen dürfte.

Karl Heinz’ Onkel Karl wurde in dieser Nacht verhaftet und kam in ein Konzentrationslager, wo er mehr als ein Jahr lang eingesperrt blieb. Und Karl Heinz‘ Onkel Victor und seine Tante Susi beschlossen nach der Pogromnacht, so schnell wie möglich aus Deutschland wegzugehen. (Sie schafften es, zuerst in die Niederlande zu fliehen und konnten dann von dort mit dem Schiff bis nach Palästina (heute Israel) entkommen, wo sie in Sicherheit waren.)

Auch Karl Heinz‘ Eltern wollten weg aus Feudenheim. Einen Tag vor Karl Heinz‘ fünftem Geburtstag, am 23. Februar 1939 zog die kleine Familie aus der Eichbaumstraße zu Karl Heinz Großeltern nach Coesfeld. Diese Großeltern waren Jakob und Johanna Cohen, die Eltern von Karl Heinz‘ Mutter Martha. Die Großeltern lebten zusammen mit ihrem jüngsten Sohn, Marthas Bruder (also Karl Heinz‘ Onkel) Ludwig in Coesfeld in der Feldmark S 19 in einem Haus neben einer Bahnstrecke, das früher zu einer Fabrik gehört hatte. (Heute heißt die Adresse Diekmanns Wätken.)

In der Wohnung der Großeltern in Coesfeld war glücklicherweise in der Pogromnacht nichts zerstört worden, weil die Nachbarn einfach nicht verraten hatten, dass dort Juden wohnten. (Es gab also auch immer noch einige Menschen in Deutschland, die die Juden schützten, wenn es möglich war und freundlich zu ihnen waren, obwohl die meisten anderen es nicht mehr waren.)

In Coesfeld gab es zu dieser Zeit noch eine kleine jüdische Gruppe, die frühere Jüdische Synagogengemeinde Coesfeld. Die Mitglieder trafen sich manchmal und hielten auch offizielle Versammlungen ab. Karl Heinz Eltern Martha und Richard schlossen sich dieser Gruppe an, zu der auch seine Großeltern und sein Onkel Ludwig gehörten. Auch noch ein anderer Onkel von Karl Heinz, sein Onkel Gustav wohnte mit seiner Frau in Coesfeld und beide gehörten ebenfalls zu dem Verein der Mitglieder der ehemaligen jüdischen Synagogengemeinde. Einige Monate nach dem Umzug der Familie Freund nach Coesfeld fand die letzte Versammlung dieser jüdischen Gruppierung in Coesfeld statt.

Karl Heinz‘ Vater Richard musste zusammen mit den Onkeln Ludwig und Gustav Cohen zum „geschlossenen Arbeitseinsatz“ nach Münster: Diejenigen jüdischen Männer aus Coesfeld, die noch nicht alt und gebrechlich waren, wurden verpflichtet, dort beim Graben neuer Kanalschächte mitzuarbeiten, sie mussten also schwere körperliche Arbeit mit Spitzhacke und Schaufel machen. Denn Juden durften jetzt gar keine eigenen Geschäfte und Betriebe mehr haben und sie konnten kaum noch irgendwo Geld verdienen, um sich und ihre Familien über Wasser zu halten. Stattdessen wurden sie zu harter Arbeit auf dem Bau oder in Fabriken gezwungen, für die sie nur sehr wenig Lohn bekamen.

Im Februar 1940 wurde Karl Heinz Freund sechs Jahre alt – er wäre jetzt also eigentlich in die Schule gekommen. Aber anders als die christlichen Kinder, die so alt waren wie er, konnte er nicht in die Schule gehen, weil jüdische Kinder in Deutschland jetzt keine Schulen mehr besuchen durften. Manchmal sorgten noch die Jüdischen Gemeinden dafür, dass auch die jüdischen Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernten. Aber in Coesfeld gab es keine richtige Jüdische Gemeinde mehr, also auch keinen Schulunterricht für den sechsjährigen Karl Heinz. Er war im Frühjahr 1940 das letzte jüdische Kind in Coesfeld. Er hatte also nur noch Erwachsene um sich herum und sicher wenige oder gar keine Freunde in seinem Alter.

Am 17. September 1940 starb Karl Heinz‘ Großmutter Johanna Cohen an der Krankheit Diabetes. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Coesfeld beerdigt. Zurück in der Feldmark S blieben außer Karl Heinz und seinen Eltern der Opa Jakob und der Onkel Ludwig Cohen.

Knapp ein Jahr später, am 6. August 1941 mussten sie alle ihr Zuhause dort verlassen und in das sogenannte „Judenhaus“ in der Kupferstraße 10 in der Coesfelder Innenstadt umziehen. Solche Häuser, in denen alle Juden, die noch in einer Stadt lebten, auf ganz engem Raum zu- sammenwohnen mussten, gab es jetzt in allen Orten in Deutschland. Karl Heinz und seine Familie lebten vier Monate im Coesfelder „Judenhaus“. Ab September 1941 mussten sie und alle anderen Juden in Deutschland auch einen großen gelben Stern an ihrer Kleidung tragen, den sogenannten „Judenstern“, so waren sie draußen auf der Straße immer und überall als jüdisch erkennbar.

Der siebenjährige Karl Heinz Freund (vorne rechts) mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des sogenannten „Judenhauses“ am Morgen des 10. Dezember 1941 im Schlosspark. Direkt hinter Karl Heinz steht sein Vater Richard, daneben seine Mutter Martha. Nachdem das Foto gemacht worden war, wurde die Gruppe über Münster ins Ghetto nach Riga deportiert. Nur Karl Heinz‘ Tante Wilhelmine Cohen, später Süßkind (ganz links) hat die Deportation überlebt.

(Foto: Stadtarchiv Coesfeld)

Am 10. Dezember 1941 wurden Karl Heinz und seine Familie mit fast allen anderen Bewohnerinnen und Bewohnern des „Judenhauses“ ganz früh am Morgen abgeholt. Sie durften nur wenig Gepäck mitnehmen und mussten sich im Schlosspark (manche sagen auch Liebfrauenpark) zu einem Foto aufstellen. Danach wurde die ganze Gruppe mit LKW nach Münster gefahren und von da per Eisenbahn in ungeheizten Viehwagons mit vielen Hundert anderen Juden aus ganz Westfalen in einer fast drei Tage dauernden Fahrt über 1200 Kilometer nach Riga in Lettland gebracht. Dort wurden all diese Juden, die im tiefsten Winter wie Vieh aus Deutschland heraustransportiert worden waren, in einer bewachten Siedlung untergebracht. Diese Siedlung, in der die Juden jetzt wohnen mussten, hieß „Ghetto Riga“. Karl Heinz war sieben Jahre alt als er mit seiner Familie dorthin kam. Auch im Ghetto wurden viele der Erwachsenen zu schwerer und schmutziger Arbeit gezwungen. Alle, auch die Kinder, bekamen nur wenig zu essen und wenn sie krank wurden, kümmerte sich niemand richtig um sie.

Niemand weiß genau, was im Ghetto Riga mit Karl Heinz Freund und den meisten seiner Coesfelder Verwandten passiert ist. Nur eine Tante aus Coesfeld, die mit Karl Heinz nach Riga kam, ist später lebend zurückgekehrt. Karl Heinz und alle anderen jüdischen Coesfelder, die nach Riga gebracht wurden, sind dort oder in einem anderen Lager, in das sie vielleicht noch verschleppt wurden, an Hunger oder Krankheit gestorben oder getötet worden.